Emotion oder Pragmatismus?
So viele Flügeltürer in 1:87! Und jetzt noch einer von Herpa... Braucht’s das denn? Oh, ja, und wie! Herpa präsentiert auf der Spielwarenmesse 2024 nach rund einjähriger Entwicklungszeit einen Mercedes 300 SL W198/I, den „Flügeltürer-SL“. Eine Ikone im Automobilbau, ein Ausnahmefahrzeug, eine Legende. Davon kann es gar nicht genug geben.
Man braucht nicht das Auto zu sehen. Es reicht bereits, das Armaturenbrett zu sehen und man weiß: Das ist ein Mercedes 300 SL. Bild: Jiří Sedláček
Es gibt stets die Bedenkenträger, die Abwäger, die Controler. Die sagen, eine Investition ist eine Geldausgabe, und unser Betrieb soll kein Geld ausgeben, sondern Geld einnehmen. Die würden sagen: Es gibt in 1:87 schon so viele Flügeltürer-SL, dass jeder Sammler, der einen will, längst einen hat. Also braucht Herpa nicht auch noch einen zu machen. Aus ihrer Sicht haben sie recht. Aus Sammlersicht aber nicht. Denn erstens ist der legendäre 300 SL so großartig, dass ihn eigentlich jeder Modellautohersteller, der etwas auf sich hält, in seinem Programm haben sollte. Und zweitens gibt es genügend Sammler, die einen 300 SL von Herpa und nur von Herpa wollen. Die wissen, dass es ihn schon 1955, als er neu war, als unverglastes Wiking-Modell gegeben hat, dann als verglastes und als Veteran und von etlichen anderen Herstellern auch. Aber sie sammeln nicht antiquarische Wiking-Autos und schon gar nicht Miniaturen irgendwelcher Hersteller. Sie sammeln Herpa. Das ist ihre Marke. Und sie wollen einen 300 SL von Herpa. Jetzt bekommen sie ihn!
Das typische Werksfoto mit geöffneten Flügeltüren. Die Angelsachsen sprechen vom „Gullwing“ (Möwenflügel), die Franzosen vom „Papillon“ (Schmetterlingsflügel). Die Deutschen legen sich auf kein Tier fest. Ihnen reicht ganz einfach „Flügeltürer“. Bild: Archiv Daimler-Benz
Das Dumme ist nur: Wem der kleine Finger gereicht wird, der greift gerne nach der ganzen Hand. Werden die Herpa-Sammler alleine mit dem 300 SL Flügeltürer zufrieden sein? Oder verlangen sie anschließend nach dem 300 SL Roadster, dem legitimen Nachfolger des Coupés? Gemach – eines nach dem anderen. Jetzt ist erst mal das Coupé an der Reihe. Und man muss auch mal mit dem glücklich sein, was man bekommt, und nicht immer nach dem schreien, was es (noch) nicht gibt.
Dort zu finden, wo die Schönen und Reichen Urlaub machen: römischer 300 SL im schweizerischen Pontresina im August 1958. Bild: Archiv afs
Nicht nur ein Auto. Ein Symbol
Der Flügeltürer ist zwar ein Auto. Aber er ist mehr als das. Er ist auch ein Symbol. Weil ihn das über sein eigenes Dasein als Auto überhöht, ist er zur Legende geworden. Natürlich ist er pure Ingenieurskunst, und er ist seiner Zeit, den 1950er Jahren, in so vieler Hinsicht überlegen, dass er heute noch Gültigkeit hat. Vom nostalgischen Moment mal abgesehen, ist es, rein pragmatisch betrachtet, aus heutiger Sicht eine ziemliche Qual, mit einem Auto des Baujahrs 1955 zu fahren. Heute mit einem ’55er 300 SL zu fahren ist hingegen nicht nur eine emotionale Offenbarung. Selbst wenn reiner Pragmatismus vorherrscht, so gilt: Man ist im 300 SL dem 2024er Verkehrsgeschehen überlegen, man schwimmt nicht nur mit, man fährt deutlich voran. Er ist heute noch schnell, ist sportlich, agil. Ein gleichalter Ponton-Mercedes ist ein Verkehrshindernis, ein 300 SL fährt auf der linken Spur. Heute. Damals kann ihm die Spur gar nicht links genug sein. Denn er ist der Schnellste der Schnellen, der Herausragendste der Extraordinären, nicht nur national, sondern international. Die meisten der 1.400 Flügeltürer werden in die USA exportiert (und dort liebevoll „Gull Wing“, also „Möwenflügel“ genannt), aber heute sind die meisten wieder zurück in der Heimat, als Klassiker reimportiert. Wofür steht der 300 SL, warum ist er mehr als ein Auto, warum ein Symbol? Dazu muss man sich in seine Zeit versetzen, 70 Jahre zurück. Seine Zeit, das ist das Wirtschaftswunder, die lichten Jahre nach dem Dunklen des Krieges und der entbehrungsreichen Nachkriegszeit.
Der straßentaugliche 300 SL geht auf den Rennsportprototyp W194 zurück, der erstmals einen Gitterrohrrahmen mit Alukarosserieverkleidung trägt. Er kam, sah und siegte 1952: Le Mans, Eifelrennen am Nürburgring, Carrera Panamericana. Gesehen 1997 im belgischen Zolder. Bilder: Archiv afs
Vor dem Krieg gehören die Silberpfeile auf der Rennstrecke zu den Weltklasse-Fahrzeugen. Nach dem Krieg gibt es zunächst keine Grand-Prix-Beteiligung für deutsche Fahrer, und so hat Daimler-Benz auch keinen Grund, sich konstruktiv zu engagieren. Aber bei Sportwagenrennen schon. 1952 kommt der Mercedes W194, genannt 300 SL, ein reines Rennsportfahrzeug mit Flügeltüren. 1953 ist die Carrera Panamericana in aller Munde, und die herausragenden Leistungen des Mercedes-Teams mit den Fahrern Kling/Klenk und Lang/Grupp. Das ist der Anlass, warum Max Egon Becker sein feinstes Autoradio „Becker Mexico“ nennt. Daraus konstruiert Mercedes einen Seriensportwagen für die Straße, den W198, das Flügeltürer-Coupé. Für die Westdeutschen bedeutet dieses Auto bei seiner Präsentation im Jahre 1955 ungemein viel – mindestens so viel, wie der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft im Jahr zuvor: Wir sind wieder wer. Über uns spricht die Welt nicht mehr nur negativ, nicht mehr nur im Zusammenhang mit dem Krieg. Über Deutschland wird wegen seiner herausragenden Leistungen positiv gesprochen, in der ganzen Welt. Das ist Balsam für die geschundenen Seelen der Nachkriegsdeutschen, die wegen des verlorenen Krieges zunächst gehungert haben, dann entnazifiziert werden, in einem besetzten Land leben, keine internationale Souveränität haben. Ihr Bundeskanzler Konrad Adenauer verschafft ihnen wieder Ansehen in der Welt, ihre Nationalelf zeigt der Welt, dass Westdeutschland sportlich leistungsfähig ist, und ihre Industrie schafft Produkte, die international bewundert werden und auf die sogar die Amerikaner scharf sind. Der Mercedes 300 SL gehört also zu den Faktoren, welche den Westdeutschen ihr Kriegstrauma zu bewältigen helfen.
Heute ist der 300 SL ein viel gesehener Gast bei historischen Rennsportveranstaltungen. Doch schon in seiner aktiven Zeit liebt er es zu sporteln: Rallye Monte Carlo 1958, die Oslo-Starter am Touring-Motel in Tübingen. Bild: Archiv afs
Eine Ausnahmeerscheinung auf der Straße
„Der Flügeltürer“ ist also ein absolutes Ausnahmeautomobil – nicht zuletzt wegen seiner Flügeltüren. 1400 Coupés werden zwischen 1954 und 1957 gebaut, also ein eher rarer Anblick. Straßenrandbegegnungen mit einem 300 SL haben Seltenheitswert. Bekommt man einen zu Gesicht, so geht das an niemandem emotionslos vorüber, selbst einen völligen automobilen Ignoranten beeindruckt dessen Auftritt. Fußgänger drehen die Köpfe, Autofahrer konzentrieren sich nicht mehr auf den eigenen Wagen. Wenn ein Junge einen sieht, war das wichtig genug, um es in der Schule im Freundeskreis zu erzählen. Wer gezielt einen 300 SL sehen will, muss in eine große Mercedes-Niederlassung gehen, wo einer als Neuwagen ausgestellt ist. Wenn ein Schuljunge höflich fragt, kann es sein, dass er vom Mercedes-Verkäufer einen Prospekt bekommt. Aber da muss er schon sehr freundlich fragen und der Verkäufer muss seinen großzügigen Tag haben.
Erneut die Monte, zwei Jahre früher: Max Egon Becker, der Autoradiohersteller, kommt auf Rang 223. Dabei sein ist alles! Bild: Archiv afs
Vom offenen Nachfolger, dem 300 SL Roadster W 198/II, sind mehr unterwegs, 1858 Exemplare bis 1963. Er ist praktischer. Es hat beim Flügeltürer nicht immer elegant ausgesehen, wenn der Fahrer über die hohe Schwellerkante ins Innere geklettert ist und nach oben hat greifen müssen, um die Tür zu schließen. Bei den Herren geht das ja noch. Aber die Beifahrerin, und ist sie noch so gelenkig, hat ihre liebe Not. Denn Damen tragen damals keine Hosen. Und obendrein hoch gesteckte Frisuren. Nicht zuletzt deshalb ist der 300 SL Flügeltürer nicht nur ein Männerauto, sondern eher ein Alleinfahrerauto. Man(n) genießt ihn solo. Wenn die Freundin oder Gattin oder sonst ein weibliches Wesen mit soll, hat der Herr von Welt noch einen Zweitwagen, der ebenfalls schick ist, sich aber besser entern lässt. Und trotzdem: Der Einstieg ist ganz einfach nicht das Gelbe vom Ei.
In Anlehnung an den Silberpfeil war der 300 SL vorrangig silbern lackiert, innen rot, woran sich Herpa hält. Exponat im Mercedes-Museum. Bild: Alexander Migl
Das konventionelle Entern in den Roadster gestaltet sich unproblematischer, selbst dann, wenn das Hardtop montiert ist. Aber einen Roadster fährt man natürlich offen. Man will sich und die Freundin schließlich der Welt zeigen. Der Roadster ist auch fernreisetauglicher, denn er hat einen halbwegs brauchbaren Kofferraum. Die Eingelenk-Pendelachse erhält eine Ausgleichsfeder, und späte Roadster verzögern mit Scheiben- statt Trommelbremsen.
Erneut Beckers Wagen während der Rallye Monte Carlo 1956, hier die Kontrolle in Stuttgart-Eiss. Bild: Archiv afs
Vor allem der US-amerikanische Jet-Set ist schuld daran, dass Daimler-Benz aus dem Coupé einen Roadster macht. Und weil so viele vom 300 SL träumen, sich aber nur wenige einen leisten können, reagiert Daimler-Benz mit dem 190 SL, dem kleinen Bruder des 300 SL, nur halb so teuer wie dieser, preislich auf dem selben Niveau wie ein Porsche 356.
Blöder Job für den Mechaniker: Die Luftschlitze reinigen. Gesehen beim 1.000-km-Rennen auf dem Nürburgring im Mai 1957, der Wagen von Wolfgang Seidel, letztlich Rang 21. Bild: Archiv afs
Im zweiten Anlauf: Der Herpa-Flügeltürer
Vor vielen Jahren, um 1997, hat Herpa schon einmal einen Flügeltürer im Angebot. Das ist aber kein echtes Herpa-Modell. Vielmehr stammt es von Monogram, einem amerikanischen Plastikkit-Hersteller aus Chicago, der seinerzeit auf dem US-Markt eine 1:87-Serie lanciert, die „Mini-Exacts“.
Die Erstlingsfarben von Herpa: Flügeltürer in schwarz, hier in friedlicher Koexistenz mit seinem halbwegs aktuellen Flügeltüren-Epigonen, dem SLS AMG (C197), gebaut zwischen 2010 und 2014 und ebenfalls Bestandteil des Herpa-Formenfundus’. Theoretisch könnte man sich ein Herpa-Set mit beiden in „matching colours“ vorstellen. Bild: M 93
Diese ist dort eher erfolglos, Herpa übernimmt die Formwerkzeuge und hat somit einige klassische „Amis“ im Programm. Und unter diesen ist auch der 300 SL (Herpa-Nummer 032025), weil er eben auf dem US-Markt eine so herausragende Rolle inne hat. Das ist kein sonderlich gutes Modell, es ist zurecht vergessen.
Beispiele für „verrückte Farben“, in die Herpa eintauchen könnte: Jeansblau Metallic, innen helledelluxusbeige ... Bild: Charles
Ganz anders die Neukonstruktion. Das ist ein Modell nach aktuellem konstruktivem Stand und eben eine Herpa-Eigenkonstruktion, passt also in die Herpa-DNA. Das ist ein Modell mit separat eingesetzten Chromteilen, es trägt zweiteilige, durchbrochene Felgen, ist auf dem typischen Herpa-Niveau bedruckt. Und vor allem: Proportionen und Dimensionen stimmen. Die Farben der beiden Erstlinge sind zwar ein wenig klischeehaft, nämlich Silbermetallic und Schwarz, jeweils mit rotem Interieur. Aber so muss man wohl anfangen, wenn man in das Thema 300 SL Flügeltürer einsteigt.
... oder Himbeerrot Metallic ... Bild: Alexander Migl
Die wahrhaft spannenden Farben, in denen teilweise nur ein einziges Automobil ausgeliefert wird, kommen erst später. Und es gibt wahrlich extraordinäre Farben! Über den 300 SL ist alles belegt, es gibt keine Geheimnisse. Es existieren sogar Verzeichnisse, welche die Farben und Innenausstattungen aller ausgelieferten 1.400 Fahrzeuge belegen. Ein weites Feld! Herpa wird keine Schwierigkeiten haben, Farbvarianten zu bringen. Und es wird bunt!
... oder ein knallblauer Unilack, wie auf der Techno Classica 2023 ausgestellt. Bild: Charles
Text: Alexander Storz
Zahlen, Daten, Fakten
Mercedes 300 SL Coupé W198/I
Produktion: August 1954 bis April 1957
Design: Friedrich Geiger
Präsentation: International Motor Sports Show New York, Februar 1954
Stückzahl: 1.400 Exemplare im Mercedes-Werk Sindelfingen
Preis: 29.000 DM